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„Das sterbende Schwein“ - eine Übergewichtige tanzt Ballett

Von den 26 Jahren, die ich nun schon auf dieser Welt verweile, möchte ich seit mindestens 20 Jahren eine Ballerina sein. Und das klingt etwas komisch, wenn man dabei bedenkt, dass ich nie das „typische Mädchen“ war. Ich hatte, bis ich 13 war, einen Igelhaarschnitt, war schwer übergewichtig, habe Kleidung in dunklen Farben und mit Comic-Aufdrücken getragen und spielte gern für mich allein Ghostbusters (ich war natürlich der schlaue Egon Spengler mit Brille!).

Merkwürdigerweise gab es da aber immer auch eine andere Seite in mir, die Ballerina werden wollte. Überhaupt einfach tanzen wollte.

Schon in der ersten Klasse habe ich im Schulhort vor Unterrichtsbeginn, als meine Mutter meine Schwester und mich schon halb sieben dort absetzen musste, Tanzeinlagen gegeben. Und alle haben mich angestarrt und vielleicht sogar bewundert.
Auf einer aufgenommenen Videokassette vom „Abschlussfest 4. Klasse“ meiner Schwester - ich war sechs - sieht man mich allein vor einer Menge Schülern, Lehrern und Eltern zu Caught in the Act tanzen. Und immer, wenn ich diese Aufnahme sehe, würde ich mich am liebsten vor Scham verstecken. Aber eigentlich ist es ganz niedlich – man sieht das Funkeln und die Begeisterung in meinen Augen und denkt: „Mensch, die Kleine hat aber Spaß!“.

Ich liebe Glitzer, rosa, Kleider, Musicals, Strumpfhosen. Ich bin fantasievoll, romantisch und verträumt. Und keiner wollte mir das lange Zeit abnehmen.

Als wir im Schulmusikunterricht, es muss 7. Klasse gewesen sein, vom Ballett redeten und ich in der Pause ein wenig vor mich hin zu tanzen begann, kamen sofort die blöden Sprüche. Aber ich stieg gleich mit ein: „Ich bin nicht der sterbende Schwan aus Schwanensee, sondern das sterbende Schwein, HA HA!“.

Die Jahre danach waren von Schwarz (alles!), Metal Musik (laut und böse!) und Alkohol (viel!) geprägt und das Ballett- oder Tanz-Thema hatte keinen Platz in meinem Leben, obwohl die Leute oft begeistert waren, wie gut ich „Model-Laufsteg-Läufe“ der Art Germany’s Next Topmodel nachahmen konnte und ich für mich selbst in meinem Zimmer zu Musik von Beyoncé, Jennifer Lopez oder Britney Spears tanzte. Aber ich war dick, ich war bewegungsfaul und ich war mir sicher, ich würde niemals meinen Traum erfüllen und Ballerina, Tänzerin oder Musicalsängerin werden.

Manchmal neige ich dazu, Sachen zu vergessen oder aufzugeben. Sachen, die ich liebe oder schon immer machen wollte, bleiben aber in meinem Kopf, als seien sie dort festgenagelt worden. Wie abnehmen. Einmal eine ausgedehnte New York Reise machen. Mir Sailor Moon tätowieren zu lassen. Mit Bands auf Tour gehen. Tanzen lernen.

Manches konnte ich mir schon erfüllen, anderes muss eben noch warten. Aber wenn ich so zurückdenke, dann habe ich immer das geschafft, was ich mir von Herzen gewünscht habe – weil ich dafür gekämpft habe.

Und so startet mein Traum vom Ballerina sein vor acht Wochen, als ich das erste Mal zum Anfängerkurs Ballett beim Hamburger Sportverein Sportspaß gegangen bin. Geplant war dieser Besuch schon Monate vorher. Es ist der perfekte Termin – Sonntag Mittag, da hat man eigentlich immer Zeit. Und es ist ein Einsteigerkurs und wenig besucht. Die große Scham ist trotzdem immer anwesend. Die Gedanken spielen verrückt, die Angst steigt in einem auf, die Hände werden zitterig.

Wie gut sind die anderen?
Trage ich das richtige Outfit?
Hoffentlich mache ich alles richtig!
Halten die anderen mich für ein fettes Schwein?
Bin ich überhaupt fürs Ballett gemacht?
Was wird die Trainerin nur von mir denken, wenn ich dort auftauche?
Wie viel Scham kann ich aushalten?

Kennt ihr das Musical bzw. den Film A Chorus Line? Genau so habe ich mir die erste Stunde Ballett vorgestellt und tue es auch immer wieder, jeden Sonntag, wenn ich auf dem Weg zum Training bin. Da sind perfekte, durchtrainierte Menschen, die die Schritte der Tanzchoreographien in Sekundenschnelle nachtanzen können und allen Anforderungen gerecht werden.
Ob diese Tänzer schon seit ihrer Kindheit hochprofessionell tanzen und das eh ein nicht 100% der Realität entsprechender Film ist, ist mir dabei egal. Der Perfektionismus klopft bei mir jederzeit an die Tür und schreit mir ins Gesicht: „DU MUSST PERFEKT SEIN, EGAL UNTER WELCHEN UMSTÄNDEN!

Umso mehr erstaunt es mich, dass ich bisher alle Unterrichtsstunden ohne Tränen, maßloser Verzweiflung oder depressiven Einbrüchen überstanden habe. Während des Unterrichts realisiere ich dann doch für einige Momente, dass alle Teilnehmer nun aber auch wirklich Anfänger sind. Und keine top ausgebildeten Profitänzer und wir alle unsere Fehler machen. Deswegen kann ich mich schließlich für diese 50 Minuten Kurszeit allein aufs Tanzen einlassen und empfinde dafür tatsächlich echten Spaß. Na klar, kenn ich die meisten (französischen!) Begriffe noch nicht und fluche mal vor mich hin. Ich bin auch oft langsam und führe die Bewegungen noch nicht sauber oder grazil genug aus. Aber es macht mir Spaß. So viel Spaß wie ich ihn sicherlich das letzte Mal im Gesangsunterricht hatte und der schon seit acht Jahren der Vergangenheit angehört. Die klassische Musik bleibt noch Stunden nach dem Unterricht im Ohr und inzwischen habe ich mir angewöhnt, verschiedene Beinpositionen auch im Alltag einzubauen, um sie zu üben. Am meisten fasziniert mich am Ballett aber wahrscheinlich, die vollständige Kontrolle über seine Bewegungen und die akkuraten Figuren zu haben und es gleichzeitig so aussehen zu lassen, als würde man geradezu über den Boden schweben. Nicht von dieser Welt sein, schön sein. Perfekt sein.

Ich glaube, ich habe ein neues Hobby gefunden und das macht mich wohl am glücklichsten.

Meine Mutter will das noch nicht so wahr haben. Als ich mit ihr kürzlich telefonierte und meinte, Anfang nächsten Jahres dann statt zu Sportspaß in eine richtige Ballettschule mit einmaligem Training pro Woche zu wechseln, weil ich das Tanzen nun wirklich von Grund auf lernen wolle, antwortete sie mit gelangweilter Stimme, ich sollte doch vielleicht noch warten und mir das überlegen, ob sich der hohe Mitgliedsbeitrag auch wirklich lohnen würde.

Zum Glück bin ich heute alt genug und kann für mich selbst entscheiden. Und so will ich jetzt nach und nach – wortwörtlich – weitere Schritte Richtung Traum „Ballerina“ machen.

 

Titelbild: „Dancers in the Classroom, the Clark Institute - Williamstown“ von Massachusetts Office of Travel & Tourism, via Flickr unter CC BY-ND 2.0 Lizenz

  • http://natalie.springhart.de/ Natollie

    <3

  • Martin

    Großartig! Mach’s weiter! Ich habe mit 47 Jahren vor drei Wochen angefangen, bin jetzt bei zwei Ballettschulen gleichzeitig. Ich konnte mit Ballett nie was anfangen, auch eher aus alter Indie-Tradition und dann noch Mann. Aber je mehr ich kennen lernte, desto mehr Großartiges entdeckte ich, Freiheit, Schönheit, Klarheit der Körpersprache, vollkommen verschiedene Menschen etc. Ballett ist die reine Schönheit der Bewegung und jeder Körper hat irgendwo Grenzen, grundsätzlich gibt es jedoch keine Bedingung. Balance, Kraft, Rhythmus reichen.

    • marimastermind

      Martin! Vielen Dank für deinen Kommentar, ich habe mich richtig darüber gefreut… deine Worte geben mir Mut und Kraft! Ich find’s super, dass du als Mann den Tanz entdeckt hast und es ist schade, dass es nicht mehr von deiner Sorte gibt. Tanzende Männer sind hach… einfach wunderschön!! :)
      Ich durfte in der kurzen Zeit auch schon so viel an mir selbst entdecken, dass ich gespannt bin, wozu ich und mein Körper in der Zukunft noch so fähig sind. Ich freue mich, dann auch wirklich bald in die Ballettschule zu gehen - ich denke, das wird nochmal eine ganz andere Erfahrung als in einem Sportverein mit immer wechselnden Teilnehmern und zwei verschiedenen Trainerinnen.