Ach, das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie kommt in regelmäßigen Abständen wieder hoch. Manchmal geht es um die typischen Büroangestellten, manchmal um die Führungseliten der Unternehmen. Meistens geht es um den Status Quo: wir arbeiten immer länger, in manchen Unternehmen ist es zwangsläufig, dass du ab einer bestimmten Stufe in einen schweigenden Wettbewerb mit Kolleg_innen trittst, wer am längsten abends im Büro bleibt, und die Frage nach Kindern ist für Frauen nicht nur in Vorstellungsgesprächen immer noch ein Totschlagargument. Burnout wird zur Volkskrankheit, und als Symptom einer Depression zeigt es eigentlich nur, was wir alle schon längst wissen: unsere Gesellschaft arbeitet sich kaputt, Reallöhne sinken, aber nach außen strahlen wir der von der Regierung propagierten Wirtschaftsmacht Deutschlands entgegen. Vielleicht rechnet irgendwann mal jemand aus, wieviel uns diese ganze angebliche Produktivität denn genau kostet: von Burnout bis Trennungen bis krankanfällig bis Resignation.
Okay. Ich schweife ab.
Gestern schrieb Christian Soeder dann einen Artikel, der insbesondere auf Spitzenpositionen abzielte. Es wäre eben ein langsamer Weg an die Spitze, das wären ohnehin nur Probleme der „oberen Oberschicht“, und deswegen ja kein Thema für Parteien, weil die ja Politik für „die breite Masse“ machen würden. Eigentlich wollte ich auf Grund von Sätzen wie das war schon immer so und wird auch immer so sein nicht antworten, aber vielleicht stellt sich ja Einsicht ein. Mal sehn.
Dem ganzen Artikel liegen einige Annahmen zu Grunde. Natürlich kann man darauf basierend argumentieren, die Frage ist für mich allerdings, was ich aus einer oberflächlichen Beschreibung ableite, und warum ich nicht tiefergehend analysiere. Zuerst einmal unterstellt Christian, dass der Weg an die Spitze ein langsamer, beschwerlicher Weg ist, der den meisten Menschen verschlossen bleiben wird. Ja, letzteres ist richtig. Er bleibt den Menschen jedoch nicht verschlossen, weil das ein Naturgesetz ist, sondern weil die Eliten des Landes ein weitgehend abgeschotteter, größtenteils männlicher Club ist, dessen Mitglieder sich alle in Habitus (Verhalten, Herkunftsmerkmale, kulturellem Wissen und Kapital) so sehr ähneln, als wären sie aus einer großen Familie. Wissenschaftler wie Hartmann oder Bourdieu haben die Wirkungsmechanismen an der Spitze zu genüge beschrieben, und dort zeigt sich eben auch: der Weg nach oben ist gar nicht so langsam und beschwerlich, kommt man aus der richtigen Familie, Stadt und trägt das richtige Geschlechtsteil (in diesem Falle einen Penis). Fassen wir also zusammen: die Spitze bleibt vielen Menschen verschlossen, weil es eine in sich homogame (sich ähnliche) Masse ist, deren feinste Unterschiede und Nuancen eine Aufnahme für Uneingeweihte sehr schwer machen. Die „obere Oberschicht“ ist sich also zu ähnlich um durchlässig zu sein.
So weit so gut. Eine weitere Annahme lautet: Das Problem bzw. die beispielhafte Lösung eines Problems bei Spitzenkräften interessiert nicht, da die Politik für die „normalen“ Menschen (oh excuse me, ich wusste nicht, dass die obere Oberschicht nicht normal ist, sind die was besseres?) gemacht wird, und nicht für die Elite. Was dann wiederum impliziert, dass die Probleme von Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Spitzenkräfte und das mittlere/untere Management sowie die restlichen 80% der Bevölkerung verschiedene sind, oder zumindest die Lösungen verschieden sind. Also zuerst einmal: es tut mir wirklich leid, da jetzt zu desillusionieren, aber Politik wird nicht für die breite Masse gemacht. Politik wird von einer Elite gemacht (mittlerweile sind über 2/3 der politischen Elite Menschen, die selbst aus überdurchschnittlich gut gebildeten Familien mit Einfluss kommen) und zu einem großen Teil für einflussreiche Bevölkerungsschichten gemacht. Das sind nicht die Putzfrauen, das sind nicht die Mechatroniker bei Opel, das sind nicht die Kindergärtner_innen nebenan. Oder warum spricht hier niemand davon, wie ein Hartz IV Empfänger eigentlich mit zwei Jobs seine Familie mit den Stütz-Zahlungen vom Amt in Einklang bringen kann? Nein, einflussreiche Bevölkerungsschichten, das sind die Schichten, die innerparteilich dafür sorgen, dass Spitzenpersonal seine Legitimation beibehält (denn intern gilt es genauso zu umgarnen wie nach außen), ergänzt durch die Medien, denen im Kampf um Wählerstimmen noch einmal eine eigene Rolle zu kommt, und die sich im übrigen aus ähnlichen Herkunftsmustern rekrutieren wie die sonstige Elite des Landes (für mehr siehe Bourdieu, Swartz, Schumpeter, Hartmann, etc.). Es ist doch ganz einfach: würde Politik für die breite Masse der Gesellschaft gemacht werden, wäre Leiharbeit größtenteils verboten, wäre Breitband längst überall in Deutschland (auch im Sauerland!) angekommen, könnten gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren. So ist es aber nicht.
Weiter im Text. Sind die Probleme von Führungskräften tatsächlich so irrelevant für die Bevölkerung? Noch mal zur Erinnerung: die Elite rekrutiert sich hauptsächlich aus sich selbst, und die Führungsetagen sind eben auch so undurchlässig, weil sie sich nach Kriterien der Homophilie bilden (deswegen u.a. auch die gläserne Decke für Frauen). Wären sie durchlässiger, wenn sie in sich selbst heterogener wären? Ja. Hätten somit mehr Bevölkerungsschichten eine Chance auf eine Spitzenkarriere? Ja. Wären andere Themen priorisiert als Shareholder Value in einem diverseren Team? Ja. Jetzt wird es spannend im Text von Christian, denn er riegelt nicht nur die Durchlässigkeit nach oben per Definition ab, nein, er sagt auch noch, dass eben diese Führungskreise keine Auswirkungen nach „unten“ hätten. Aber wie wir gerade festgestellt haben, wird Politik von einer Elite gemacht, die sich eben aus dem selben Pool wie in der Wirtschaft und den Medien bildet (kleiner Exkurs: Elite = Menschen, die maßgebliche Entscheidungsgewalt besitzen). Wenn dieser Pool nun heterogener wird, wird auch die Politik heterogener, und offener für Bedürfnisse bisher vernachlässigter Wählerschichten (Stichwort Nichtwähler - natürlich könnten Parteien einen Großteil von Nichtwählern mobilisieren, so gesehen bei den Piraten, es kümmert nur niemanden was die Nichtwähler wollen).
Als nächstes folgt ein kleiner Abstecher zur Quote (yeah, ich höre schon von hier aus einige stöhnen, bleibt noch einen kurzen Moment dabei):
Die Frauenquote für DAX-Vorstände und –Aufsichtsräte ist trotzdem richtig (jedoch aus anderen Gründen), don’t get me wrong — aber zu glauben, dass das auch nur ein winziges kleines Stückchen mehr Geschlechtergerechtigkeit für die Masse der Frauen bringt, ist ein einziger großer Fehler. (Soeder)
Nachdem wir alle mit Aufstöhnen fertig sind, wenden wir wieder das schöne Prinzip der Logik an: mehr Frauen => mehr Heterogenität => mehr Durchlässigkeit nach oben => mehr heterogene Nachrekrutierung in den nachfolgenden Management-Ebenen => mehr Frauen in verschiedenen Positionen => mehr Selbstverständlichkeit von Frauen an wichtigen Stellen. Vielleicht haben wir eine andere Definition von Geschlechtergerechtigkeit, aber die Idee, dass Frauen dieselbe realistische Chancen haben eine Führungs- oder gar Spitzenposition zu erlangen, klingt pretty fucking amazing für mich. Genau das ist es dann, was Expertinnen wie Slaughter und Schwarzbart anprangern, wenn sie sagen
Vielfalt in Organisationen und echte Vereinbarkeit stellt sich nicht durch Warten auf den Wandel ein. (Bücker)
Sie stellt sich nur durch eine Disruption, eine Herbeiführung von Wandel, eine Infusion externer Ideen und Störungen ein. Und natürlich (!) wird dann mehr für Frauen getan werden, auch von der Politik. Natürlich nicht (!) für alle Schichten, denn dafür müsste in die Heterogenität der Geschlechter noch die der sozialen Herkunft und Migration kommen, zwei immer gerne vernachlässigte Felder, aber das ist noch mal ein anderes Thema und kann nicht als Kritik an der Quote angebracht werden, ist es doch eher generelle Kritik am politischen System und wer da eigentlich für wen was macht (s.o.).
Das ist es vielleicht, was für mich Christians Text am schlimmsten macht: der letzte Absatz. Gerade in einer Partei, die seit 150 Jahren an bestehenden Gesellschaftsverhältnissen rumdoktort, weil sie es ablehnt, den Status Quo als gegeben zu akzeptieren, stört es mich, dass so ein Text erscheint. Vom fehlenden Verständnis für die Wirkungsmechanismen von Eliten, Politik und Wirtschaft mal abgesehen muss doch zumindest die Symbolkraft nachvollziehbar sein: Ich persönlich glaube zum Beispiel nicht, dass es Zufall ist, dass so viele junge Menschen zwischen 25 und 35 in die Sinnkrise stürzen, wenn sie das verstaubte Büro sehen während sie seit Jahren die Büros von Google und Facebook mit Rutschbahnen und bunten Farben kennen. Selbstfindung ist das Thema unserer Generation, einer Generation, die den Luxus hat keinen Krieg zu kennen - weder kalt noch vor der Tür - und gleichzeitig zwischen den Polen von weltweiter Unsicherheit einer globalisierten Wirtschaftskrise und abgesicherter Existenz einer Exportnation hin und her springt. Den imperfekten Status einer Führungselite einfach so hinzunehmen lehne ich ab, denn das würde bedeuten: es gibt keinen Wandel. Es lohnt keine Veränderung. Es wird sich nichts bessern. Klar, es kann sein, dass ich als Frau da anders drauf gucke, aber wenn wir so denken, was lässt uns dann Raum zum Denken, Lieben, Frei Sein?
Vielleicht ist es an der Spitze einsam. Fuck, unten ist es auch einsam, wenn du als Teenager anfängst illegal aufm Bau zu arbeiten, damit du deinen arbeitslosen Vater und deine alleinerziehende Mutter nicht nach Geld für ein Eis fragen musst. Es ist scheißegal wo du bist, es kann überall einsam sein. Dies als zynische Begründung eines konservativen Wertebilds zu benutzen, ist nicht nur falsch:
es verkennt auch die realen Erfordernisse moderner, progressiver Politik. (Soeder)