Vor etwa zwei Monaten schrieb ich mit Kathy Meßmer einen Artikel über Peer Steinbrück und seine Äußerungen, und wie diese allein durch die gewählte Wortwahl Realitäten schaffen. Heute ist es an der Zeit, diesen noch einmal zu reflektieren: zusammen mit sechs weiteren tollen, klugen und engagierten Frauen habe ich einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben, in Bezug auf seine Äußerungen zur Sexismus-Debatte.
Gauck wählte dabei ein Wort, welches mir die Fingernägel aufrollt: Tugendfuror (sprich: ihr seid rasende Moralapostel). Mehr noch: er unterstellt der Debatte einen Hype (sprich: eigentlich total überzogen was ihr da gemacht habt). Weiterhin sagt er, dass er kein flächendeckendes Fehlverhalten erkennen kann (sprich: es gibt kein Problem). Kurzum: er nimmt die Debatte nicht ernst, und mit seinen gewählten Worten schafft er eine ganz bestimmte Form von Realität: er redet das Problem weg, er lenkt ab, er diskreditiert die Debatte. Dies ist insofern problematisch, da er unser Staatsoberhaupt ist. Einer der Mächtigen, einer der Elite, spricht das aus, was sich viele in Politik-Kreisen (und zwar nicht nur bei der FDP), Wirtschaftszirkel und News-Redaktionen insgeheim gedacht haben: übertriebene Hysterie von einer paar Frauen, was wollt ihr überhaupt. Zu amerikanische Verhältnisse, feminazische Weltverschwörung, einself! ist es da nicht weit.
Aber auch etwas anderes war interessant zu beobachten: in unserer versandten PM sprachen wir von „Frauen wenden sich an Gauck“ - doch in den Artikeln kann man nur von „Feministinnen“ „jungen Frauen“ oder „jungen Feministinnen“ lesen. Was passiert da? Ganz einfach: man drückt uns ein Label auf. Nein, nicht Frauen wenden sich an Gauck. Junge Frauen. Na, Assoziationskette? An was denkt ihr? Studentinnen? Schülerinnen? Germany’s Next Top Model? Noch nicht ausgereifte Erwachsene? Feministinnen ist dabei aber auch schön - wir sind keine Frauen, nein, wir sind Feministinnen. In einem Land, wo dieses Wort weiterhin ein Schimpfwort ist, wo Feminstin unweigerlich mit Kurzhaar tragenden Mannsweiber-kalibriegen Schwarzers assoziiert wird, hat das eine besondere Bedeutung. Feministinnen wenden sich an Gauck. Nicht Frauen. Nicht Doktorandinnen, Selbstständige, Beraterinnen und Studentinnen. Nein. Feministinnen.
Sprache schafft Realität, und in einer Gesellschaft, in der die meisten Chef-Redakteure Männer sind und Machtzirkel männlich geprägt, schafft ihre Realität eben die Sprache.
Immerhin sind wir nun an einem Punkt, an dem sich die Mächtigen ihre Realitäten selbst schreiben wollen - wir werden sehen, wie gut das gelingt. Es heißt jetzt nicht aufgeben, dran bleiben, und weiter den Finger in die Wunde legen, und #Aufschrei hat tiefe Wunden gerissen. Die Mächtigen mögen die Fäden in der Hand halten, aber sie können die Fäden nicht ziehen, wenn die Wunde noch nicht verheilt ist.
Ihr könnt hier den Brief lesen und unterschreiben.
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