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Familie hat nur eine Definition.

Weihnachten war für mich 26 Jahre lang der schönste und der schrecklichste Feiertag des Jahres. Eine dysfunktionale Familie in der die Angst vor der eiskalten Stille der Eltern fast genauso groß ist wie die vor dem großen lauten Streit selbiger tut nun mal ihr übriges. Als Kind lag ich an den Feiertagen vorm Fernseher, ein Schutzraum, und sah wie perfekte Familien in perfekten kitschigen Filmen Weihnachten feierten, rausgeputzt, glücklich, zufrieden, perfekt. Mit Schnee. Natürlich. Draußen dagegen mild warmer Winter mit Matsch, Regen und erst zusammen wohnenden streitenden Eltern - Streit vorm Essen, Streit beim Essen, Streit beim Auspacken, Streit beim Spielen, Streit nachdem wir ins Bett geschickt wurden - dann getrennt lebende einsame traurige Eltern, die mit schnittigen Kommentaren auch noch die letzte Freude über das Geschenk des jeweils anderen Ex-Partners an die Kinder wegnehmen konnten.

Und trotzdem habe ich diesen Feiertag so geliebt: die Hoffnung auf Liebe, das Fest der Liebe, das soll es doch sein, die Christmetten geliebter Hafen der Ruhe - wortwörtlich - selbst kleine weinende Kinder in der Mette, egal, unwichtig. Dieser Traum einer Familie, verzeihend, ohne Anspruch, da, geborgen, sorgsam, liebend, eine Familie eben, so unbekannt und doch vertraut durch die Kitschpoesie einer Filmindustrie tausende Kilometer weit weg. Zu verlockend die Illusion, zu hart die Realität. Und wie ein Kind hofft, hofft, dass das Christkind auch dieses Jahr wieder kommt, hofft, dass es doch wie durch ein Wunder an Weihnachten schneit, hofft, dass es überraschend einen Welpen bekommt, hofft, dass es ein Jahr Geschenke gibt ohne gemurmelte Kommentare dass das Geld ohnehin so knapp sei, - so hoffte ich jedes Jahr, dass wie durch ein Wunder meine Verwandten sich in eine Familie wandelten, meine Mutter lebensfroh, mein Vater gesund, mein Bruder wach, und ich geborgen, und so hoffte ich und hoffte ich und genoß die Adventszeit rückblickend immer mehr als Weihnachten selbst. Konditioniert auf Streit und Gefühlskälte war die Diskrepanz jedes Jahr wieder fast unerträglich, doch die Hoffnung lachte sich eins ins Fäustchen: irgendwann Minchen. Irgendwann.

Jetzt, 2012, ich bin 27, nähere mich den alten Wunden von denen viele vernarbt und manche sogar verheilt sind, und ich weiß endlich, begreife endlich: Familie ist nicht zwingend Verwandtschaft. Blut ist nicht dicker als Tränen. Seit letztem Jahr feiere ich nicht mehr mit meinen Eltern, Geschwistern oder Verwandten. Meine Oma tot, mein Opa dement, sind auch die letzten Anker hinfort, und ich feiere nur noch mit meiner Familie. Meine Familie besteht aus sehr guten Freundinnen, Schwestern gleich, und Freunden, Stützen gleich. Nichts gezwungen, alles gewollt: und wenn wir an Heiligabend mit einem Wein in der Hand vorm Fernsehen sitzen bin ich ruhig und geborgen und nicht angespannt. Und vielleicht wird es draußen schneien, vielleicht nicht, aber ich bin diesem Idealbild in Kitsch und HD näher als jemals zuvor.

Doch das ist das Problem, oder? Unsere Gesellschaft definiert Familie strikt als ein Konstrukt aus Eltern, Kind, Kinder, Großeltern, Verwandschaft. Abstrakte Definitionen, ohne Emotionen, ohne Gefühle - ein Familienbild aus dem Lexikon. Und wie ein strenger alter Lehrer zieht die Politik so eben dieses Familienbild für ihre Welt hinzu: Ehepaare werden steuerlich besser gestellt, Homosexuelle mögen sich segnen lassen, sind aber keine Familie, nicht mal mit Kind, um Gottes Willen, wörtlich, und kinderlose Paare oder lebenslange Singles sind ohnehin doch wohl fehlerhaft und ohne Familie. Doch eben das kann, soll, DARF nicht das Bild einer Familie sein: eine Familie ist, wo geliebt wird, eine Familie ist, wo geborgen wird, eine Familie ist, wo man verzeiht und liebt und gibt und kümmert und die Bande so stark sind dass selbst nach jahrelangem Schmerz kein Tag vergeht an den man nicht an selbige denkt, auch wenn man sie hassen möchte. In meinen wenigen vielen durchlebten 27 Jahren habe ich eins gelernt: Liebe kennt kein Geschlecht, Fürsorge keine Blutsverwandtschaft, Geborgenheit kein Alter, Familie nur eine Definition: Familie ist, was als Familie gefühlt wird.

Vielleicht braucht es erst Millionen Budgets an Weihnachtskitsch mit Familienbildern, die eben nicht Vater-Mutter-Kind entsprechen, damit dies allen begreiflich wird. Vielleicht kann man auch das Verständnis nicht erwarten von Familien, die unkompliziert, sorgend, liebend füreinander da sind, mit Streit zwar manchmal, aber in der Not immer zur Seite, Familien, die zwar meckern und mosern über die drei Feiertage mit den lieben Verwandten, insgeheim aber das Vertraute genießen - vielleicht kann man von ihnen nicht verlangen, dass sie verstehen, dass es auch anders geht, in beide Richtungen. Aber man sollte und müsste Akzeptanz verlangen, Offenheit, und später, vielleicht, Verständnis; und wenn sie das nächste Mal den Finger heben und mir erzählen, dass Gott Mann und Frau schuf, vielleicht ergänzen sie dann, dass er auch die Liebe schuf, und sie eben auch zwei Frauen und zwei Männer treffen kann. Vielleicht glauben sie, dass eine Ehe nicht automatisch zu einer liebenden Beziehung führt sondern vielmehr zu einem rechtlichen, geistlichen, weltlichen und je nach dem auch kirchlichen Rahmenwerk. Und vielleicht lernt das nächste kleine Mädchen dessen Eltern sich hassen und lieben und hassen und eigentlich, vielleicht, lieben, dass ihr Leben nicht für immer so weiter gehen muss und die Gesellschaft fängt all diese Außenseiter und Außenseiterinnen auf und gibt ihnen Geborgenheit in Wort und Tat. Ich hoffe es, wie früher. Und vielleicht schneit es an Weihnachten.

  • http://teilzeitpazifist.wordpress.com steffenpelz

    Scheint ein Generationen-Ding zu sein: Als ich meinen Eltern eröffnete, dass für mich zu meiner Familie auch und besonders mein Freundeskreis gehört, brach sich schierer Unglauben Bahn. Und tut es jedes mal wieder, wenn es zu terminlichen oder Interessenkonflikten kommt.
    Es bleibt nur eines übrig: Das „andere“ Familienbild leben und weitergeben, bis es in die Selbstverständlichkeit übergeht. Wandel funktioniert nur durch Machen.

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