Gedacht

Interwebz, wir müssen reden.

Und zwar über deine Prioritäten.

Deutschland steht nächstes Jahr eine der wichtigsten Wahlen seit der Wiedervereinigung bevor. Richtungsweisend. Mehr Merkel’sche Unentschlossenheit, mehr populistische Isolation in Europa, weniger Chancen, mehr innere Trennung der Gesellschaft… oder ein Wandel. Wie auch immer der aussehen mag. Hey, vielleicht holen die Grünen 40% und machen eine Koalition mit den Piraten. Mir egal. Diese Merkel’sche Politik muss weg.

Die Mieten steigen und steigen, viele können sich ein Studium deswegen kaum noch leisten. Gleichberechtigung von Frauen ist immer noch nicht ganz umgesetzt. In anderen Ländern Europas gibt es Arbeitslosenquoten um die 50%. Das sind wichtige Themen. Das ist der Umbruch, der gerade statt findet. Und worüber reden wir online seit einer Woche? Über Eventpages von Twitter für Parteitage. Wirklich Leute? Wirklich?

Nie war mir diese Filterblase ferner denn je. Nie hat man die Luxusprobleme der Netzelite mehr gespürt. Aber sonst kommt ihr klar, ja? Zumal hier total viel Bohei um nix ist: weder werden Tweets gelöscht (von Löschen sprechen wir, wenn sie entfernt werden, und nicht aus einer Liste gefiltert) noch wird etwas zensiert (Menschen in China rollen gerade so hart mit den Augen, ihr solltet euch schämen). Twitter bietet einen Dienst an, um Tweets zu aggregieren, und gefiltert anzubieten. Warum? Na, könnt ihr euch etwa nicht mehr an die ganzen Spam-Tweets erinnern? Porno-Babes? Oder ganz einfach - wie es heute auch im Übrigen auf Twitter in der normalen Hashtag-Suche (die es immer noch gibt, schocking!) zu sehen war - um krasse Beleidigungen geht. Wird SpiegelOnline z.B. Leserkommentare frei schalten, in denen „scheiß SpiegelOnline, ihr seid solche Arschlöcher!“ steht? Ich denke nicht. Warum sollten sie auch? Die Situation ist also vollkommen über dramatisiert. Auf Teufel komm raus mal ein Shitstorm, der nichts mit den Piraten zu tun hat, war das das Ziel? Und Journalist_innen machen teilweise munter mit. Nein, wieso sollte man auch mal nachdenken oder differenzieren?

Hier, lasst es mich mal für euch zusammen fassen: Weder hat Twitter seine Suchfunktion geändert, noch verhindert, dass sich alle Tweets zu bestimmten Hashtags auffinden lassen. Alles wie immer. Twitter hat lediglich - und das ist alles! - eine neue Funktion eingeführt: eine Sonderseite, die selektive Tweets anbietet. Ob eine Partei das nutzt und warum, darüber kann man (gerne) streiten. Ob es Sinn macht zu viel zu filtern. Was Twitter damit bezweckt, was das Ziel ist. Was so was kostet. Ja, gerne. Redet darüber. Aber bitte lasst doch euren billigen Populismus weg und behauptet nicht irgendeinen Schwachsinn. Niemand zensiert. Niemand löscht. Niemand ist böse.

Wenn ihr unbedingt ein Feindbild braucht - es gibt genügend Unrechtsregime auf dieser Welt, die es mit der Meinungsfreiheit *wirklich* nicht so ernst nehmen. Alles andere ist Bildniveau.

Siehe auch: hier oder hier und hier (etwas kritischere Meinung, aber schön sachlich dargelegt)

  • http://jensbest.net/ Jens Best

    Lieber Mina,

    es ist immer spannend, wie die Existenz von „größeren Problemen“ herangezogenen wird, wenn jemand zum Ausdruck bringen will, dass er/sie kein Interesse hat, sich inhaltlich mit einer Kritik zu beschäftigen. Ein enttäuschender Einstieg in deinen Blogpost.

    Kein Journalist hat etwas von „Zensur“ geschrieben. Konrad Lischka hat seine Kritik, die ich umfänglich teile, klar und deutlich formuliert: hier vermischt sich Publizität und PR/Marketing - zwei Dinge, deren Trennung im Journalismus und in der Öffentlichkeit generell zu trennen sind.

    Neben dem Algorithmus gibt es, auch bei SPD-Parteitag, eine händisch eingerichtete Whitelist (ob die von Twitter angebotene Blacklist-Funktion auch benutzt wurde, kann ich nicht erkennen, da der Account, der die Eventpage „managed“ geschützt ist und somit auch dessen Listen nicht einsehbar sind.)

    Es handelt sich hier um eine Kritik, die wir auch bei Facebook oder Google öfters diskutieren. Es geht um die Frage, inwieweit die persönliche Filterfunktion durch kommerzielle Interessen des Plattform-Anbieter und seinen echten zahlenden Kunden (also nicht die Twitter-Nutzer, die sind hier nur das pro-aktive Produkt) beeinflusst wird und inwieweit der durchschnittliche Nutzer sich dieser Tatsache bewusst sein kann, weil er/sie informiert wird.

    Zusätzlich stellt sich die Frage, ob die Beeinflussung des individuellen Informationsstream auf kommerziellen Plattformen aufgrund von Wünschen zahlender Kundschaft beeinflusst werden kann.
    Im Journalismus war und ist dies eine Mauer, deren Undurchlässigkeit für die Glaubwürdigkeit des Mediums steht. Twitter hat dies Mauer nun endgültig eingerissen.

    Zusatzbemerkung: Ich bin von den geradezu panikartigen Reaktionen der Twitter/SPD/CDU/Überhaupt-Verteidiger extrem irritiert. Es zeigt sich hier, wie weit bereits die marktkonforme Demokratie in den Köpfen des Menschen eingenistet wurde. Ein kritisches Nachdenken über die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch kommerzielle Interessen ist für viele offensichtlich abwegig - ein ebenso alarmierendes Signal (wenn nicht sogar noch schlimmer) als die eigentliche Absicht Twitters kommerzielle Interessen intransparent und dominant in ihrem Kernprodukt wirken zu lassen. Die Horde eigentlich netter Menschen, die plötzlich als PR-gehirngewaschene Zombies auf einen losstürmen ist schlichtweg schockierend.

    PS: Das Tweets-Entfernen aus einer Liste mag allgemein nicht als „löschen“ betitelt werden, sondern als „nachträgliches blacklisting“, dennoch liegt hier eine nicht gekennzeichnete Einflussnahme vor, die dem Nutzer Objektivität fälschlicherweise suggeriert. („nachträgliches Blacklisting“ - ich hoffe diese Formulierung entspricht hinsichtlich Verharmlosung und Denglish-Nutzung deiner beliebten PR-style Realität).

    • http://twitter.com/miinaaa Mina

      Ich finde es irritierend, warum eine andere als deine Meinung direkt eine PR-gehirngewaschene Zombie Realität darstellen soll. Ich finde es ferner irritierend wie du versuchst subtil lauter Dinge zu unterstellen und in die paar Zeilen Blog gleich noch Kapitalismusgeilheit mit rein interpretieren kannst. Was du mit meiner angeblich beliebten PR-style Realität versuchst auszudrücken verstehe ich nicht, aber es interessiert mich auch nicht. Bitte antworte nicht mehr, das kostet mich zu viele Nerven diese merkwürdigen Kommentare durchzulesen und freizuschalten, und werde es daher zukünftig auch nicht mehr tun. Ganz transparent. Ganz nachvollziehbar. Ganz offen. Kthxbye

      Edit: ich finde es schade, denn ich finde, du hast sonst durchaus gute Dinge angesprochen, über die man auch mal sprechen sollte. Dann hast du es dir leider am Ende verkackt. Ich hab keine Lust mich in Schubladen stecken zu lassen, die nicht passen.

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  • http://isabmr.wordpress.com Gunslinger

    Eigentlich fällt mir dazu nur ein: Meine Probleme möchte ich haben.

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